Harninkontinenz des Mannes

Diagnostik

Eine gründliche Anamnese umfasst folgende Aspekte

Inkontinenzproblematik

  • Seit wann?
  • Wie oft?
  • Einschränkung der Lebensqualität?
  • Unter welchen Umständen? Triggersituationen?
    Dranginkontinenz: Mit dem Urinverlust plötzlich aufkommende Drangsymptome? Wird die Toilette nicht rechtzeitig erreicht?
    Belastungsinkontinenz: Urinverlust beim Lachen, Husten, Niesen, Heben, Tragen, Tanzen, Joggen oder Laufen?
  • Nykturie?
  • Zusätzliche Miktionsprobleme (Startschwierigkeiten, Harnstrahlqualität, intermittierender Miktionsverlauf, Einsatz der Bauchpresse, Dysurie/Algurie)
  • Defäkationsprobleme/Stuhlinkontinenz?
  • Zirkadiane Trinkmengenverteilung und Art der Getränke?
  • Wann/bzw. unter welchen Umständen wird es besser oder schlechter?
  • Bisherige Therapieversuche?
  • Medikamentenanamnese

Gesundheitsstatus

  • Übergewicht
  • Mobilität
  • Schmerzen
  • Harnwegsinfekt
  • Makrohämaturie
  • Kognitive Funktionen

Vor-/Begleiterkrankungen

  • Operationen im kleinen Becken (z. B. Prostatektomie, Rektumresektion)
  • Bekanntes Prostatasyndrom/LUTS
  • Kardiale, neurologische Erkrankungen, metabolische Erkrankungen (z. B. Diabetes mellitus)

Unterstützend können Fragebögen eingesetzt werden, z.B. der ICIQ-UI-SF (Kurzform) oder der IPSS

  • Äusseres Genitale auf Hautirritationen
  • Rektal: Konsistenz, Sensibilität und Muskelfunktion (Tonus, Beckenbodenfunktion) sowie Grösse der Prostata und Inspektion perianale Region (Hinweise für eine begleitende Stuhlinkontinenzproblematik?)
  • Palpation Abdomen/Blase (nach Harnentleerung)
  • Neurologische Untersuchung: Reflexe im Becken (Analreflex, Bulbocavernosus-Reflex) sowie die Sensibilität im Reithosengebiet testen
  • Das Trinkverhalten, der Drang und die Einlagen können objektiver beurteilt werden
  • Das Blasen-Tagebuch sollte über 2–3 aufeinanderfolgende Tage geführt werden
    –> mediX Blasentagebuch
  • Urin-Streifentest, ev. Urinsediment/Kultur zum Ausschluss von Proteinurie, Glukosurie, Mikrohämaturie
  • Blutuntersuchung: HbA1c, ev. Kreatinin, TSH, Natrium – je nach Verdachtsdiagnose
    Hinweis: Symptomatische HWI sollen behandelt werden, eine asymptomatische Bakteriurie nicht (–> mediX GL HWI)
  • PSA-Bestimmung
    • Urininkontinenz ist kein direktes Zeichen für ein Prostatakarzinom, eine veränderte Prostata im Rahmen des Prostatakrebses kann aber zu Drangsymptomatik und Dranginkontinenz führen. Die PSA-Messung ist keine Routineuntersuchung, kann aber mit dem Patienten diskutiert und je nach Situation durchgeführt werden
    • Zum Stellenwert der PSA-Messung siehe auch medix GL Check-up
  • Gehört zu jeder Basisabklärung bei Urininkontinenz

Bedeutung

  • Prostatasymptome sind keine Prädiktoren für Restharnbildung
  • Ein Restharn kann aber ein Zeichen für eine pathologische Blasenfunktion oder ein Prostatasyndrom sein
  • Ein erhöhter Restharn ist nicht gleichzusetzen mit einer Überlaufinkontinenz
  • Die Kenntnis über eventuellen vorliegenden Restharn ist relevant, da je nach Therapie der Urininkontinenz dieser kontrolliert werden sollte

Bestimmungsmethode

  • Sonographisch sofort nach Entleerung der Blase; alternativ: Einmalkatheterisierung. Bei pathologischen Werten wiederholen
  • Ein Restharn < 50 ml gilt als normal, zwischen 50 und 100 ml als Graubereich und > 100 ml als pathologisch

Eine Überweisung an UrologIn zur (Mit-)behandlung ist in folgenden Situationen erforderlich

  • Bei Verdacht auf Karzinom (Hämaturie, erhöhtes PSA etc.)
  • Bei rezidivierenden Harnwegsinfekten
  • St. n. Prostata-Op, Operationen im Urogenitalbereich, Bestrahlung
  • Bei nicht erfolgreicher konservativer hausärztlicher Basistherapie
  • Bei nicht therapierbaren und persistierenden Schmerzen im Becken
  • Bei kontinuierlichem Urinverlust bei erschwerter Miktion, Restharnbildung sowie vermuteter oder diagnostizierter neurologischer Grunderkrankung
  • Überlaufblase mit problematischer Einlage eines Dauerkatheters (zur allfälligen Überbrückung bis zur operativen Sanierung)

Urodynamische Untersuchung

  • Indikationen
    • Neurogen bedingte Blasenfunktionsstörung
    • Bei konservativen und medikamentösem Therapieversagen und vor weiterführender Therapie wie Neuromodulation oder Botox-Injektionen
    • Je nach Ursache auch vor einem geplanten operativen Eingriff

Wichtig: Vor jeder urodynamischen Untersuchung sollte ein symptomatischer Harnwegsinfekt ausgeschlossen und behandelt werden. Eine asymptomatische Bakteriurie bedarf keiner Therapie (siehe auch mediX GL HWI Erwachsene).

Urethrozystoskopie
Indikation (Auswahl)

  • Überaktive Blase: Tumor- oder Steinausschluss (kleine Steine oder rasenflächige Tumoren können im Ultraschall nicht zuverlässig erkannt werden)
  • Mikro-/Makrohämaturieabklärung
  • Rezidivierenden HWI
  • Harnröhrenstriktur
  • Blasenhalssklerose

Röntgen/MRI

Nur bei spezieller Indikation erforderlich

Konservative Basistherapie

  • Wenn eine Grunderkrankung (Prostatasyndrom, Herzinsuffizienz, Harnwegsinfekt usw.) vorliegt, sollte diese zuerst behandelt werden
  • Belastungsinkontinenz –> Beckenbodentraining/Beckenbodenphysiotherapie
  • Dranginkontinenz –> Blasentraining, Beckenbodentraining/Beckenbodenphysiotherapie
  • Mischharninkontinenz –> Klinisch dominante Inkontinenzform als erstes behandeln
  • Körpergewicht reduzieren: Gewichtreduktion von 5–10 % reduziert Inkontinenzfrequenz um 50 %
  • Koffein- und Teeinkonsum (Kaffee, Schwarztee, Grüntee, Energydrinks, Cola, Eistee) sowie Alkohol und unverdünnte Fruchtsäfte reduzieren
  • Kohlensäurehaltige Getränke reduzieren, z. B. auf Leitungswasser umstellen
  • Flüssigkeitszufuhr normalisieren: Empfehlung ca. 2 l

Blasentraining (BT)

  • Hilft, den unzeitgemässen Harndrang zu kontrollieren, vor allem bei Drang- und Mischinkontinenz zuerst anbieten. Kann auch mit Beckenbodentraining kombiniert werden

Beckenbodentraining (BBT)

  • BBT wirkt bei Belastungsinkontinenz, Mischharninkontinenz und Dranginkontinenz/Reizblase
  • Das Training soll über mindestens 3 Monate durchgeführt werden
  • Bei ungenügender Funktion/Besserung ist physiotherapeutisch assistiertes BB-Training indiziert
  • Biofeedback kommt zur Anwendung, wenn der Patient eine ungenügend koordinierte BB-Kontraktion ausführen kann –> v. a. bei Belastungsinkontinenz nach Prostatektomie
  • Es können die verschiedenen Formen der Transkutanen Elektromodulation (TENS-ES) eingesetzt werden
  • Kondomurinale: Bei Patienten ohne eine relevante Blasenentleerungsstörung. Voraussetzungen: Ausreichende Penislänge sowie -umfang, eine gesunde Penishaut und ausreichendes manuelles Geschick
  • Penisklemme: Bei Stressinkontinenz und normaler Blasenkapazität bzw. -Compliance. Meist nur zur temporären Anwendung (Kinobesuch etc.) 
  • Inkontinenzvorlagen: Wichtige Option, können die Sicherheit im Alltag zurückgeben 
  • Katheterisierung: Sollte nach Möglichkeit vermieden werden. Je nach Ursache können jedoch die Dauerkatheterisierung oder intermittierende Katheterisierung als Therapieoption diskutiert werden

Medikamentöse Therapie

  • Antimuskarinika (AM)/Sympathomimetikum können zur Behandlung einer überaktiven Blase und Dranginkontinenz eingesetzt werden
  • Bei Patienten, die besonders gut auf antimuskarinische Medikation ansprechen, kann ev. bei Dranginkontinenz auch eine Therapie on demand (z. B. vor Kinobesuch) versucht werden
  • Es gibt keine Belege, dass ein Antimuskarinikum in der Wirksamkeit einem anderen überlegen ist
  • Verlaufskontrolle und die Kontraindikationen beachten!
  • Für jedes Medikament ist eine Interaktionsanalyse mit der bestehenden Medikation unverzichtbar

Bei Patienten > 65 J.

  • Bei Polypharmazie empfiehlt sich Mirabegron (Betmiga®) als First-line-Medikament
  • Bei ungenügender Wirkung oder bei Unverträglichkeit kann ein Antimuskarinikum eingenommen werden – in erster Linie Trospium (Spasmo Urgenin Neo®).
  • Oxybutynin sollte vermieden werden!
  • Relative Kontraindikationen für AM sind neben unbehandeltem Engwinkelglaukom und Blasenentleerungsstörungen auch Erkrankungen mit verminderter gastrointestinaler Mobilität (z. B. Hiatushernie, Reflux). Vor und während der Therapie sollten immer Kontrollen (Restharn, Innenaugendruck) erfolgen –> ev. Überweisung zum Spezialisten
  • Bei Neigung zur Obstipation sollte auf eine mögliche Verschlechterung hingewiesen werden
  • Beim Sympathomimetikum Mirabegron (Betmiga®) können auuserdem kardiovaskuläre Nebenwirkungen (Hypertonie, erhöhte Herzfrequenz) und Mundtrockenheit auftreten
  • Bei ungenügender oder fehlender Wirksamkeit –> Überweisung an UrologIn

Operation

  • Eine operative Therapie der Belastungsinkontinenz kommt nach Ausschöpfen der konservativen Therapie in Betracht

Künstlicher Sphinkter ist der „Goldstandard“

1. Harnröhren-„Schlinge“ (ATOMS-Prothese)

  • Vorteil: Gute Kontinenzrate, adjustierbar, benötigt keine speziellen Massnahmen zum Wasserlösen, kann eher nach Radiotherapie diskutiert werden
  • Nachteil: Katheterlegen und Zystoskopien sind möglich (nur von erfahrenen Urologen)

2. Harnröhrenmanschetten (verschiedene Anbieter)

  • Vorteil: Gute Kontinenzrate, adjustierbar, natürlicheres Wasserlassen
  • Nachteil: Kann bei einsetzender Demenz Probleme beim Betätigen bereiten, Fremdkörper, Katheterlegen und Zystoskopien sind möglich, sollten aber von erfahrenen Urologen vorgenommen werden

Vollversion

Autoren: Dr. med. U. Beise

Änderungsdatum: 10/2023

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