Harninkontinenz der Frau

Diagnostik

Eine gründliche Anamnese umfasst folgende Aspekte

  • Art, Auslösemechanismen, Zeitpunkt und Ausmass des Urinverlusts sowie zusätzliche Miktions- und auch Defäkationsprobleme
  • Belastungs-, Drang-, Mischharninkontinenz
  • Übergewicht
  • Lebensqualität
  • Schmerzen
  • Beschwerden nach der Miktion
  • Vorausgegangene urogynäkologische Operation
  • Geburten (Modus, Kindsgewicht, ggfls. Verletzungen)
  • Menopausenstatus
  • Harnwegsinfekte
  • Trinkgewohnheiten: wieviel, was und wann?
  • Medikamentenanamnese
  • Palpation Abdomen (Raumforderung?)
  • Vaginale und rektale Untersuchung, Nativpräparat zum Ausschluss eines vaginalen Infektes
  • Ein Blasen-Tagebuch sollte grosszügig eingesetzt werden, auch wenn es sich anamnestisch um eine reine Belastungsinkontinenz zu handeln scheint
  • Das Blasen-Tagebuch sollte über 2–3 Tage geführt werden –> Link zu Miktionsprotokoll
  • Urin-Streifentest bei Symptomen, die auf einen HWI hinweisen könnten, ev. Urinsediment/Kultur zum Ausschluss von Proteinurie, Glukosurie, Mikrohämaturie
  • Kein Screening bei Patientinnen ohne Anzeichen eines HWI
    Hinweis: Symptomatische HWI sollen behandelt werden, eine asymptomatische Bakteriurie nicht (siehe auch mediX GL HWI)
  • Gehört zu jeder Basisabklärung bei Urininkontinenz
  • Kenntnisse über Restharn sind zur Beurteilung der Inkontinenzform (Überlaufblase) und vor Einleitung einer Inkontinenztherapie wichtig, da einige Therapieoptionen die Blasenentleerung beeinträchtigen und den Restharn erhöhen und somit dem subjektiven Erfolg der Therapie konterkarieren können
    • Anticholinerge Therapie bei überaktiver Blase
    • Injektion von Botulinumtoxin in die Harnblasenwand bei überaktiver Blase
    • Operative Behandlung der Belastungsinkontinenz (suburethrale Schlinge, Kolposuspension, Faszienzügelplastik) bei Belastungsinkontinenz
  • Bestimmungsmethode: Sonographisch sofort nach Entleerung der Blase (schon nach kurzer Wartezeit oder kurzer (Zwischen-) Anamnese kann sich die Blase wieder relevant gefüllt haben!); alternativ: Einmalkatheterisierung. Bei patholgischen Werten wiederholen
  • Ein Restharn < 50 ml gilt als normal, zwischen 50 und 100 ml als Graubereich und > 100 ml als pathologisch

Eine Überweisung an eine (Uro-)Gynäkologin zur (Mit-)behandlung ist in folgenden Situationen erforderlich

  • Patientinnen mit begleitenden Blasen- oder Beckenschmerzen
  • Hämaturie, Mikrohämaturie
  • Rezidivierende Harnwegsinfekte
  •  St. n. Beckenoperationen (inkl. Inkontinenzoperationen) oder Bestrahlung
  • Begleitender Descensus oder Prolaps
  • Bei nicht erfolgreicher konservativer hausärztlicher Basistherapie
  • Bei kontinuierlichem Urinverlust bei V. a. urogenitale Fistelbildung, erschwerter Miktion (Miktionsstörung), Restharnbildung sowie vermuteter oder diagnostizierter neurologischer Grunderkrankung
  • Indikationsstellung für allfällige operative Therapie

Urodynamische Untersuchung

  • Indikationen
    • Bei Unklarheiten bzgl. der Symptomatik oder bezüglich der Pathophysiologie in der Diagnosestellung
    • Bei Therapieversagen von Anticholinergika in der Behandlung der Dranginkontinenz
    • Vor einem geplanten operativen Eingriff
    • Grosszügig bei Rezidivinkontinenz
  • Generell soll eine urodynamische Untersuchung nur durchgeführt werden, wenn aus den Ergebnissen eine therapeutische Konsequenz zu erwarten ist
    Wichtig: Vor jeder urodynamischen Untersuchung sollte ein orientierender Urinstatus zum Ausschluss einer Harnwegsinfektion erhoben werden –> ggfls. nachgewiesene Infektion zunächst behandeln!

Perineal-Sonographie

  • Bildgebendes Verfahren bei Belastungsinkontinenz und Descensus genitalis
  • Biofeedbackverfahren zur Visualisierung der Beckenbodenfunktion für die Patientin

Urethrozystoskopie

  • Hyperaktive Blase: Tumorausschluss
  • Mikro-/Makrohämaturieabklärung
  • Bei (chronisch) rezidivierenden HWI

Röntgen/MRI

  • Nur bei spezieller Indikation erforderlich

Konservative Basistherapie

  • Konservative Behandlung immer zuerst versuchen. Patientinnen vorher über die verschiedenen Behandlungsoptionen informieren
  • Patientinnen mit Belastungsinkontinenz –> Beckenbodentraining, lokale Östrogenisierung (bei postmenopausalen Patientinnen) und/oder Pessartherapie (Pessaranpassung vorzugsweise durch Urogynäkologin). Wenn damit innert drei bis sechs Monaten keine Heilung oder Besserung eintritt –> Beurteilung durch Spezialistin empfohlen
  • Patientinnen mit hyperaktiver Blase –> lokale Östrogenisierung, Blasentraining, Beckenbodentraining und bei eindeutiger anamnestischer Einordnung und Vorliegen eines Miktionstagebuchs medikamentöser Therapieversuch mit Anticholinergika, Sympathikomimetika (immer vorher Restharnbestimmung)
  • Bei Patientinnen mit Mischharninkontinenz sollte die klinisch dominante Inkontinenzform als erstes behandelt werden
  • Diabetes (Reizblase, rezidivierende HWI)
  • Herzinsuffizienz mit nächtlicher Inkontinenz/Nykturie
  • Multiple Sklerose oder M. Parkinson (Blasenentleerungsstörungen, Reizblase, rez. HWI)
  • Körpergewicht reduzieren: Gewichtreduktion von 5–10 % reduziert Inkontinenzfrequenz um
    50 %
  • Koffein- und Teeinkonsum (Kaffee, Schwarztee, Grüntee, Energydrinks, Cola, Eistee) sowie Alkohol und unverdünnte Fruchtsäfte reduzieren
  • Kohlensäurehaltige Getränke reduzieren, z. B. auf Leitungswasser umstellen
  • Flüssigkeitszufuhr normalisieren: Empfehlung ca. 2 l
  • Für Frauen mit leichter Harninkontinenz scheinen Einweg-Vorlagen (innerhalb waschbarer Pants) am besten geeignet
  • Bei mittlerer/schwerer Inkontinenz sind Inkontinenzhosen für Frauen vorteilhafter.
    Wichtig: Ärztliche Verordnung von Inkontinenzhilfen können von den Patientinnen bei KK eingereicht werden

Blasentraining (BT)

  • Hilft, den unzeitgemässen Harndrang zu kontrollieren, vor allem bei Drang- und Mischinkontinenz zuerst anbieten. Kann auch mit Beckenbodentraining kombiniert werden

Beckenbodentraining (BBT)

  • BBT wirkt bei Belastungsinkontinenz, Mischharninkontinenz und Dranginkontinenz/Reizblase
  • Das Training soll über mindestens 3 Monate durchgeführt werden

Elektrostimulation

  • Kommt zur Anwendung, wenn eine Patientin keine willkürliche koordinierte Beckenboden (BB)-Kontraktion ausführen kann
  • Ev. elektromagnetische Stimulation (EXMI = extrakorporale Magnetfeldstimulation) zur Behandlung von Harninkontinenz oder überaktiver Blase (nur in hoch spezialisierten Einrichtungen)

Perkutane tibiale Nervenstimulation (PTNS)

  • Durch intermittierende elektrische Stimulation des N. tibialis erfolgt eine Hemmung der überaktiven parasympathischen Nerven und in der Folge der Detrusoraktivität
  • Die PTNS wird mit einem Heimtrainingsgerät durchgeführt. Erfolgsraten nach 12 Wochen: durchschnittlich 60 %
  • Inkontinenzpessare (IUP) sind geeignet für Frauen, die nur bei situativer körperlicher Belastung inkontinent sind. IUP können bis zu 16 h in situ belassen werden
  • Die Pessartherapie verbessert die Lebensqualität und die Kontinenzrate der Betroffenen signifikant
  • Pessartherapie wird von Spezialistin durchgeführt
  • Die intravaginale Lasertherapie kann ev. in ausgewählten Fällen zur Behandlung der genitalen Atrophie bei Kontraindikationen für oder Abneigung gegen die lokale intravaginale Östrogenisierung und bei leichter und mittlerer Belastungsinkontinenz angeboten werden
    (–> Indikation Urologin)
  • Eine aktuelle randomisierte Studie mit Sham-Kontrolle konnte die Wirksamkeit des Verfahrens jedoch nicht bestätigen. Die Lasertherapie ist keine Kassenleistung!
  • Die Lasertherapie wird von Spezialistin durchgeführt

Medikamentöse Therapie

  • Eine vaginale Östriolgabe wird bei postmenopausalen Frauen mit Harninkontinenz und vulvo-vaginaler Atrophie empfohlen. Wichtig: Langfristige Anwendung!
  • Anticholinergika und das Sympathomimetikum Mirabegron sind effektiv zur Behandlung einer überaktiven Blase und Dranginkontinenz
  • Duloxetin kann eine Belastungsinkontinenz lindern, allerdings ist die Nebenwirkungsrate hoch, nur ausnahmsweise indiziert (–> Spezialistin)
  • Nykturie: Wichtig, anhand des Miktionstagebuches abzuklären, ob die Nykturie Folge erhöhter abendlicher Trinkmenge ist. Bei Herzinsuffizienzpatientinnen ggfls. diuretische Therapie am Tag verbessern
  • Basis-Dauertherapie bei hyperaktiver Blase, Dranginkontinenz, rezidivierenden Harnwegsinfekten und Descensusproblematik. Applikationsform muss individuell herausgefunden werden
  • Mammakarzinom ist eine Kontraindikation. Es kann im Einzelfall aber eine Behandlung in niedrigster Dosierung mit Urogynäkologen und Onkologen diskutiert werden
  • Dosierung: Lokale Östrogene werden 2 x wöchentlich vaginal appliziert
  • Anticholinergika/Antimuskarinika und Sympathomimetika sind eine zusätzliche Therapieoption bei unzureichender konservativer nicht-medikamentöser Therapie bei Erwachsenen mit überaktiver Blase oder Dranginkontinenz
  • Trospium (Spasmo Urgenin Neo®) als first-line-Medikament, da dieses Medikament die Blut-Hirnschranke nicht passiert. Alternativen: Darifenacin (Emselex®) oder Solifenacin (Vesicare® oder Generikum)
  • Kontraindikationen (KI) für Anticholinergika: Engwinkelglaukom, Blasenentleerungsstörungen (immer vor Therapiebeginn Restharn bestimmen!), Erkrankungen mit verminderter gastrointestinaler Mobilität (z. B. Hiatushernie, Reflux). Weitere KI siehe Arzneimittel-Compendium
  • Bei Mirabegron (Betmiga®) sind Blasenentleerungsstörungen und Glaukom keine Kontraindikationen
  • Für jedes Medikament Interaktionsanalyse mit der bestehenden Medikation
  • Als pflanzliches Präparat kann Bryophyllum versucht werden, wenn hohe Compliance gewährleistet ist (Einnahme von 4 x 2 Kau-Tbl. täglich)
  • Bei ungenügender oder fehlender Wirksamkeit –> Überweisung an Spezialistin

Operation

  • Eine operative Therapie der Belastungsinkontinenz kommt nach Ausschöpfen der konservativen Therapie in Betracht
  • Auch adipöse Patientinnen können von Harninkontinenz-Operationen profitieren
  • Gute Erfolgsraten mit geringen Komplikationsraten können auch bei älteren Patientinnen durch suburethrale Band-Operationen erzielt werden
  • Das Risiko für ein Operationsversagen und auch die Komplikationsrate nehmen wahrscheinlich mit dem Alter zu
  • OP erst nach abgeschlossener Familienplanung
  • Retropubische suburethrale Bandeinlagen (Goldstandard): Minimal-invasive OP mit ausgezeichneten Kontinenzraten und Langzeitresultaten. Im Vergleich zum transobturatorischen Band haben retropubische Bänder eine höhere Kontinenzrate, geringere Erosionsrate vor allem im lateralen Vaginalsulcus und verursachen weniger Schmerzen
  • Offene oder laparoskopische Kolposuspension oder die autologe Faszienschlinge bei Frauen mit Belastungsinkontinenz, wenn suburethrale Bandanlagen (retropubisch oder transobturatorisch) nicht in Betracht kommen

Vollversion

Autoren: Dr. med. U. Beise

Änderungsdatum: 04/2023

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