Angststörungen

Hausärztliche Diagnostik

  • Angst wird erst relevant und pathologisch, wenn es zu übertriebenen, unrealistischen oder auch grundlosen Reaktionen kommt. Das Angsterleben führt dann zu Vermeidungsverhalten bzw. Rückzug von Alltagsverrichtungen und zu Schwierigkeiten am Arbeitsplatz und in sozialen Beziehungen
  • Der Ausschluss somatischer Erkrankungen durch technische Untersuchungen soll nur insoweit erfolgen, bis hinreichend wahrscheinlich ist, dass keine körperliche Ursache vorliegt. Überdiagnostik vermeiden: Risiko der iatrogenen Fixierung und Chronifizierungsrisiko!
  • Eigenanamnese/biographische Anamnese, Familienanamnese, Fremdanamnese
    • Traumatische Erfahrungen, psychische Erkrankungen von frühen Bezugspersonen, Verlusterfahrungen und erlerntes Verhalten in der Herkunftsfamilie beachten
    • Inhalt der Befürchtungen sowie persönliche, berufliche und soziale Auswirkungen der Angst
    • Allgemein belastende Faktoren
  • Differenzierung der Angst
    • Situations-/Objektbezogen?
    • Auslösende/s Situation/Objekt?
    • Verlauf akut, anfallsartig, chronisch?
    • Grad der Beeinträchtigung
  • Frage nach bereits stattgefunden Abklärungen
  • Ausschluss einer anderen psychischen Erkrankung
  • Erkennen einer komorbiden Depression
  • Selbstbeobachtungen (z. B. Symptom-Tagebuch bezüglich Frequenz von Panikattacken oder automatisierten Gedanken, inneren Dialogen und anderen Wahrnehmungen)
  • Medikamenteneinnahme?
  • Entzugssymptome (z. B. Alkohol)?
  • Zum Ausschluss einer sekundären Angstsymptomatik
  • Erstmalige Angstsymptome lassen eher an eine somatische Ursache denken

Notwendige Untersuchungen

  • Körperliche Untersuchung
  • Neurologischer Status
  • Bei der Erstanamnese
  • Differentialdiagnostische Abklärung zu körperlichen Erkrankungen – Schilddrüsendysfunktion, Hypoglykämien, Hyperparathyreoidismus, Arrhythmien, COPD, Krampfanfällen und Phäochromozytom

–> Labor: Blutbild, Blutzucker, Elektrolyte (Natrium, Kalium, Korrigiertes Kalzium), TSH, EKG mit Rhythmusstreifen

Nur bei speziellem Verdacht

  • Lungenfunktion
  • Kranielle Bildgebung (cMRT, cCT)
  • EEG

Generalisierte Angststörung

Körperliche Ausdrucksformen

  • Zittern, Herzrasen, Schweissausbrüche, Schwindel, Atemnot, Brustenge, Übelkeit, Muskelverspannungen

Hinweis: Anders als bei Panikstörungen treten körperliche Symptome nicht anfallsartig auf, sondern wechselnd, sind aber grundsätzlich dauerhaft vorhanden

Psychische Ausdrucksformen

  • Konzentrationsstörungen, Schlafprobleme, Nervosität, Schwierigkeit sich zu entspannen, schnelle Verärgerung oder Gereiztheit
  • Ständige Sorgen, z. B. erkranken zu können, Unfälle zu erleiden, Sorgen über die eigenen Sorgen („worrying about worrying‟)
  • Komorbide Depressionen treten häufig hinzu, wenn keine wirksame Behandlung der Angsterkrankung erfolgt
  • Diagnosestellung: Wenn primäre Symptome von Angst (übertriebene Befürchtungen, frei flottierende, unbestimmte Angst, motorische Spannungen, vegetative Übererregbarkeit) mehrere Wochen bis Monate vorhanden sind (nach ICD-10)
  • Primär Psychotherapie (KVT)
  • kann eine Kombination aus Psycho- und Pharmakotherapie notwendig sein

Medikamentöse Therapie

  • SSRI oder SSNRI sind Erstlinienmedikamente, Auswahl des Medikaments anhand von Nebenwirkungen, Wechselwirkungen und Patientenpräferenzen und Vorerfahrungen
  • Benzodiazepine: Zurückhaltend, wegen NW/Abhängigkeitspotential, ev. jedoch in der akuten Phase in Monotherapie oder als Komedikation zu SSRI

Vorgehen

  • Mit geringer Dosis starten, Dosiserhöhung alle 1–2 Wochen
  • Wenn nach 6 Wochen kein Effekt –> auf anderes SSRI oder SSNRI wechseln
  • Ev. auf maximal tolerierte SSRI-Dosis gehen
  • Ev. zusätzlich Pregabalin
  • Behandlungsdauer: Bei guter Wirksamkeit (6)–12 Monate

Panikstörung

Angstanfall mit körperlichen Symptomen

  • Herzrasen, Beklemmungs- und Erstickungsgefühl, Zittern, Schwitzen, Beben, Schwindel-Ohnmachtsgefühle, Hitze- oder Kältewallungen, Taubheits- und Kribbelgefühl. Angst „wahnsinnig“ zu werden oder zu sterben
  • Zunahme der Beschwerden mit Höhepunkt nach 10 Minuten; durchschnittliche Dauer: 30–45 min
  • Panikattacken enden auch ohne Intervention zumeist nach spätestens 2 h
  • 2/3 der Fälle sind im Verlauf mit einer Agoraphobie verbunden
  • Patienten beruhigen sich durch Anwesenheit eines Arztes
  • Alleinige Psychotherapie (1. Wahl KVT) oder die Kombination einer evidenzbasierten Psychotherapie mit einer Pharmakotherapie
  • Bei Patienten, die eine Pharmakotherapie bevorzugen –> SSRI – einschleichend dosieren!
  • Venlafaxin (SSNRI) kann alternativ eingesetzt werden, wenn der Patient auf einen oder mehrere Versuche mit SSRI nicht angesprochen hat
  • Bei partiellem Ansprechen kann ev. ein zweites Medikament, z. B. ein Benzodiazepin (meist Lorazepam) eingesetzt werden
  • Wirkungseintritt: Nach ca. 2–6 Wochen
    Volle Wirksamkeit: Nach ca. 4–6 Wochen
    Behandlungsdauer: Mindestens 1 Jahr

Zwangsstörung

Zwangsgedanken

  • Typische Themen sind: Ansteckung, Vergiftung, Verschmutzung, Krankheit, Streben nach Symmetrie, Ordnung, Aggression, Sexualität und Religion
  • Bizarr anmutende Gedanken, die rational schwer nachvollziehbar sind
  • Affektive Symptome: Angst, Anspannung, Verzweiflung, Unruhe sowie depressive Verstimmung

Zwangshandlungen

  • Die häufigsten Zwangshandlungen: Wasch- und Putzzwänge sowie Kontroll- und Ordnungszwänge
  • Anhand der Symptome: Starre, unangemessene Rituale und sich wiederholt aufdrängende Gedanken und Impulse, die als aversiv erlebt werden (Intrusionen)
  • Bei Krankheitsbeginn > 50 J.: Hirnorganische Abklärung
  • Abklären, ob die aktuellen Symptome ev. im Rahmen einer anderen Störung einzuordnen sind (z. B. Schizophrenie, Depression, generalisierte Angststörung)
  • Auf mögliche komorbide depressive Episode achten
  • KVT mit Reizkonfrontation und Reaktionsmanagement
  • Weitere von der SGPP anerkannte Verfahren: Psychoanalytisch orientierte Therapie und systemische Therapie

Ergänzende Pharmakotherapie

  • Kombinationsbehandlung aus KVT und SSRI-Behandlung bei schwerer Zwangsstörung und Versagen einer Monotherapie
  • SSRI-Dosis oftmals höher als bei der Behandlung von Depressionen. Wichtig: Stufenweise Auftitrierung unter regelmässigen EKG- und Laborkontrollen
  • Behandlungsdauer: Bei gutem Ansprechen Fortsetzung der Behandlung über mindestens 1–2 Jahre. Beim Absetzen Dosisreduktion um 10–25 % alle 1–2 Monate

Soziale Angststörung

  • Starke Furcht, im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen oder sich zu blamieren –> Vermeidungsverhalten
  • Die Ängste beziehen sich auf soziale Situationen (z. B. Sprechen oder Essen in der Öffentlichkeit)
  • Körperliche Symptome: Erröten oder Zittern, starker Harn- oder Stuhldrang
  • Frühzeitig behandeln, um chronische Manifestation zu verhindern!
  • KVT wird bevorzugt empfohlen, aber auch für psychodynamische Therapien besteht ein Wirksamkeitsnachweis
  • Kurzzeit-Psychotherapie, die auf interpersonale Defizite und Rollenkonflikte mit wichtiger Bezugsperson oder Rollenwechsel zielt, hat eine geringere Ansprechrate als KVT
  • Bei nur teilweiser Besserung –> ev. zusätzlich medikamentöse Therapie mit SSRI/SNRI

Ergänzende Hinweise

Folgende pflanzliche Präparate können trotz schwacher Studienlage bei Ängstlichkeit oder innerer Unruhe verabreicht werden

  • Lavendelöl/Laitea®-Kapseln, ab 18 Jahren (Kontraindikation: Leberfunktionsstörungen)
  • Pestwurzextrakt/Relaxane® Filmtabletten: Erwachsene und Kinder ab 6 Jahren (Vorsicht bei bestehender Leberschädigung)
  • Johanniskraut/Rebalance®: Erwachsene und Jugendliche ab 12 Jahren (nicht gleichzeitig einnehmen mit Antidepressiva oder anderen serotoninergen Substanzen sowie bei bekannter Lichtüberempfindlichkeit)

Vollversion

Autoren: Med. pract. Rahel Krämer

Änderungsdatum: 11/2024

Wollen Sie über aktualisierte und neue Guidelines informiert werden?

Abonnieren Sie unseren kostenlosen mediX-Guideline Update-Service.

mediX-Guidelines weiterempfehlen