Schwindel

Diagnostik

  • In 80 % ist die Anamnese diagnostisch!
  • Die Anamnese und klinische Untersuchung mit HINTS und Neurostatus sind in der Detektion von akuten zentralen Pathologien der Bildgebung mittels CT oder MRI überlegen

Fokussierte Abklärung in Anlehnung an den TiTrATE-Algorithmus – Timing, Triggers, Targeted Exam

  • Triage, Timing and Triggers
    • Triage –> Red flags (s. u.) vorhanden?
    • Timing –> Zeitliche Manifestation
    • Trigger – > Mögliche Auslöser

 –> Siehe auch unten Algorithmus Abklärung akuter Schwindel

Red Flags

  • Seh-, Sprech-, Schluckstörungen oder andere neurologische Ausfälle
  • Gestörte Vigilanz
  • Hörstörung und Fazialisparese (Akustikusneurinom)
  • Synkope, Hinweis auf kardiale Ursache (Rhythmusstörungen, Belastungsintoleranz, -angina, -dyspnoe)
  • Rein vertikaler, rein torsioneller oder rein horizontaler Spontannystagmus (Hinweis auf zentrale Störung)
  • Paresen
  • Gesichtsschmerzen mit Hautausschlag (Zoster)
  • Kopfschmerzen

Tabelle: Fokussierte Anamnese von Schwindel (fett gedruckte Diagnosen sind in der HA- Praxis häufig)


Algorithmus Schwindel

 

 

Weitere diagnostische Hinweise/Begleitsymptome

  • Medikamentenanamnese/Alkohol (Schwindel ist eine häufige NW von Medikamenten!)
    • Antihypertensiva, Diuretika, Psychopharmaka, Antiepileptika, Parkinsonmedikamente (s. a. Tabelle im Anhang)
  • Bekannte organische Erkrankungen und kv Risikofaktoren?
  • Starkes Erbrechen oder Übelkeit –> peripher vestibulärer Schwindel
    Anmerkung: Erbrechen kommt zwar bei anderen Erkrankungen auch vor
    (z. B. Migräne, akute zerebrovaskuläre Erkrankung), jedoch nicht in derselben Intensität
  • Schwindel verschwindet bei geschlossenen Augen –> okulärer Schwindel
  • Ängstliche Schilderung und/oder schlecht einzuordnende Beschreibungen, Schilderung weiterer unspezifischer Beschwerden und Ängste, Zunahme unter Menschenmenge, in Stress-Situationen –> eher psychogener oder funktioneller Schwindel
  • Horizontale Kopfdrehung/Kopfbewegung als Auslöser –> Vestibularisparoxysmie (Gefäss-Nerv-Konflikt)
  • HWS-Schmerzen –> DD: Dissektion der A.vertebralis (selten)
  • Eine peripher-vestibuläre Erkrankung geht nicht mit Bewusstlosigkeit einher

 

 

Peripher-vestibulärer oder zentraler Schwindel?

Für eine peripher-vestibuläre Ursache sprechen

  • Symptome der vestibulären Tonusimbalance: Vertigo, Spontannystagmus, Übelkeit, Ataxie/Fallneigung, keine Bewusstlosigkeit

Für eine zentrale Ursache sprechen

  • Spontannystagmus vom zentral-vestibulären Typ  
  • Blickrichtungsnystagmus
  • Skew deviation = vertikale Augenfehlstellung (s. u. –> HINTS+)
  • Andere zentrale Okulomotorikstörungen, wie unidirektional sakkadierte Blickfolge, Sakkadendysmetrie oder neurologische Ausfälle wie schwere Standataxie (Pat. kann nicht allein stehen)

1. Nystagmusprüfung

  • Spontannystagmus prüfen bei Fixation geradeaus und mit Frenzel-Brille (oder M-Brille) zur Ausschaltung der Fixation
    • Peripher-vestibulär bedingter Spontannystagmus: Nimmt bei Fixation ab (visuelle Suppression des vestibulookulären Reflexes, VOR)
    • Zentral bedingter Nystagmus: Horizontaler Spontannystagmus (durch Fixation nicht gehemmt) weist auf eine zentrale Läsion hin. Ein rein torsioneller oder rein vertikaler („downbeat“ oder „upbeat“) Spontannystagmus ist immer zentralen Ursprungs
  • Nystagmus in Lateral- und Vertikalstellung der Augen prüfen –> Blickrichtungsnystagmus hat immer eine zentrale Ursache

2. HINTS+ und Provokationsmanöver

  • Zur Unterscheidung zentraler vs. peripherer Ursache bei akut vestibulärem Syndrom –> Video
    Beachte: Bei Patienten mit Nystagmus und normalem HINTS ist eine Bildgebung des Schädels nicht erforderlich!
  • Zusätzlich zu HINTS auch ABCD2-Score –> Score > 3 weist auf zentrale Ursache hin (siehe mediX GL Stroke)

 

Tabelle 3: Durchführung und Interpretation von HINTS+

Provokationsmanöver bei Verdacht auf BPLS (benigner paroxysmaler Lagerungsschwindel)

  • Dix-Hallpike Manöver zur Testung der posterioren Bogengänge –> Kurzvideo
  • Supine-Roll-Manöver zur Testung der horizontalen Bogengänge –> Kurzvideo

3. Otoskopie und kursorischer Hörtest

  • Ohrpfropf, Trommelfellperforation, chronische Otitis, Herpesbläschen im äusseren Gehörgang?
  • Einseitige Abnahme des Gehörs?

4. Neurologische Untersuchungen

  • Systematische Prüfung der Hirnnerven und der Kleinhirnfunktionen, insbesondere nach den 6 „D“ suchen: Dysarthrie, Dysphagie, Diplopie, (periorale) Dysästhesie, Dysmetrie, Dysdiadochokinese
  • Romberg-Test mit offenen und geschlossenen Augen, Unterberger-Test
  • Reflexstatus, Oberflächen-Sensibilitätsprüfung
  • Gehversuch: Einseitige Fallneigung (Fall zur kranken Seite bei vestibulärer Ursache, schliesst eine zentrale Ursache jedoch nicht aus), ungerichtete Fallneigung mit breitbeinigem Gang (zerebelläre oder sensible Ataxie), kleinschrittiger, vornübergebeugter Gang (M. Parkinson)

5. Kreislauftests

  • Herz-/Lungenauskultation mit Frage nach Rhythmusstörungen, Herzvitien etc.
  • Blutdruck-Messung beidseits, stehend und liegend
  • Bei V. a. Orthostase –> Kurz-Schellongtest

6.  HWS-Untersuchung

  • Myogelosen
  • HWS-Beschwerden

Nur bei gezieltem Verdacht!

  • Labor: Hb, Infektparameter, TSH, Glukose, Kreatinin, Elektrolyte
  • EKG (Langzeit-EKG): Bei V. a. Herzrhythmusstörungen
  • CT oder MRT des Kopfes sind als primäre Untersuchungen – ohne Verdacht auf Tumor, Insult etc. – nicht indiziert!

Eine Überweisung an Spezialisten zu weiteren Abklärungen ist erforderlich bei

  • Red Flags
  • Länger persistierender, ätiologisch unklarer, therapierefraktärer Schwindel
  • Neurologische Störung, ausser der Schwindel ist einer schon bekannten Erkrankung zuzuordnen
  • Vestibuläre Störung, mit Ausnahme eines BPLS. Zügige Überweisung zum ORL bei V. a. M. Menière (Erstdiagnose) und akute Labyrinthitis sowie Herpes zoster (oticus)
  • Kardiovaskuläre Störungen wie Rhythmusstörungen, Hinweise auf strukturelle Herzerkrankung oder Karotissinus-Syndrom oder Subclavian-Steal-Syndrom

Therapie

Medikamente

Indikation: Zur symptomatischen Behandlung bei M. Menière oder in der Akutphase einer Neuritis vestibularis

  • Antihistaminika: Dimenhydrinat (als Trawell® Kaugummi-Dragées oder in Kombination mit Cinnarizin (Arlevert®); Meclozin (Intinerol B6®) ist Mittel der Wahl in der Schwangerschaft (mit geringer Evidenz)
  • Kalziumkanalblocker: Cinnarizin (Stugeron® + Generika), Cinnarizin + Dimenhydrinat (Arlevert®)
  • Antiemetika: Metoclopramid (Paspertin®, Primperan®) oder Domperidon (Motilium®) nur bei Patienten mit schwerem Erbrechen
  • Flunarizin (Sibelium®): Als Basistherapie bei vestibulärer Migräne (> 3 Attacken pro Monat)
  • Histaminagonisten: Kein Expertenkonsens bzgl. Wirkung und Effektivität von Betahistin in der Therapie des Morbus Menière

Physiotherapie/Gleichgewichtstraining

  • Bei länger anhaltendem, kontinuierlichem Schwindel –> Aufklärung des der Patient über die Selbstregulierungsmechanismen (Kompensation, Habituation und Adaptation)
  • Erlernen von Korrekturbewegungen und somit Verbesserung der Gleichgewichtsreaktion durch Provokation von Haltungsunsicherheiten. Keine Inaktivität!
  • Indikation: Bei permanenter einseitiger peripher vestibulärer Unterfunktion, bei zentralen vestibulären Funktionsstörungen. Auch bei Schwindel, der keiner definitiven Diagnose zuzuordnen ist (PPPD, Schwindel im Alter)
  • Günstiger Spontanverlauf
  • Bei Bedarf Antiemetika wie Metoclopramid 3 x 10–20 mg/d p.o. (z. B. Paspertin®). Alternativ: Dimenhydrinat 1–3 x 100 mg/d (nicht länger als 3 Tage). Bei Erbrechen ev. parenteral unter Dosisanpassung. Frühzeitige Mobilisation aller Patienten
  • Immer: Gleichgewichtstraining (fördert zentrale vestibuläre Kompensation)
  • Glukokortikoide innerhalb von 3 Tagen nach Symptombeginn. Dosierung: Z. B. Methylprednisolon 100 mg/d, Dosis jeden 4. Tag um 20 mg reduzieren; alternativ 10-Tages-Schema: Beginn mit 60 mg an Tag 1–5, 40 mg an Tag 6, 30 mg an Tag 7, 20 mg an Tag 8, 10 mg an Tag 9, 5 mg an Tag 10
  • Wenn Erkrankung nicht innert 1 bis 2 Wochen abgeklungen/gebessert –> Überweisung zum ORL-Spezialisten
  • Repositionsmanöver nach Epley –> gleich im Anschluss an positives Hallpike-Provokationsmanöver durchführen
  • Gufoni-Manöver beim (selteneren) horizontalen Bogengangsschwindel
    • Epley-Manöver im Video: Epley
    • Gufoni-Manöver im Video: Gufoni
    • Patienten-Merkblatt Lagerungsschwindel, mit Anleitungen zur Selbsttherapie: Neurologie USZ
  • Lifestyle-Massnahmen: Z. B. verbesserter Schlaf, Abbau von Stress, Vermeidung von Koffein und Alkohol sowie eine Salzrestriktion
  • Medikamentöse Therapie
    • In der Akutphase werden antivertiginöse bzw. antiemetische Medikamente für kurzer Zeit (< 3 Tage) eingesetzt
    • Patienten mit V. a. M. Menière stets einem Spezialisten (ORL) vorstellen (dort ev. transtympanale Applikation von Steroiden, Gentamycin)
    • Betahistin 3 x 16 mg/Tag oder Cinnarizin 3 x 25 mg/Tag als erster Schritt einer Eskalationstherapie ist wirksam (15, 19)

Migräneprophylaxe

  • Riboflavin
  • Magnesium
  • Kalziumantagonisten (Flunarizin)
  • Antidepressiva (Amitriptylin)
  • Antiepileptika (Topiramat, Valproinsäure)
  • Betablocker (Metoprolol, Propanolol)

Attackenkoupierung

  • Nicht-steroidale Antiphlogistika (z. B. Ibuprofen, Naproxen)
    oder
  • Analgetika (z. B. ASS als Brausetablette)
  • in Kombination mit einem Antiemetikum (z. B. Dimenhydrinat, Metoclopramid, Domperidon)
  • Triptane gegen Migräne Kopfschmerzen wirksam

–> Siehe auch mediX GL Kopfschmerz

  • Bei Verdacht auf zervikogenen Schwindel Versuch mit manueller Therapie (jedoch schwache Evidenz)

Vollversion

Autoren: Dr. med. U. Beise

Änderungsdatum: 10/2023

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